Jubiläumstagung
Bundesstelle für Sektenfragen
Programm
Presseaussendung
Sektenlandschaft im Umbruch, 22.11.2023
Die Vorträge
Glaubensfreiheit versus Kindeswohl
Vortragende: Sabine Riede (Leiterin der Beratungsstelle Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V.)
Die Handlungsweise eines Menschen kann durch eine Glaubensüberzeugung so fehlgeleitet werden, dass Eltern, die ihre Kinder durchaus liebhaben, ihnen trotzdem Schaden zufügen. So gibt es beispielsweise Eltern, die aus Glaubensgründen schulmedizinische Behandlungen für ihre Kinder verweigern oder ihre Kinder züchtigen oder vehement den Schulbesuch ablehnen. In einigen wenigen Fällen gibt es sogar Eltern, die ihre Kinder bereits im Sinne des radikalen Salafismus erziehen. Wer mögliche Gefahren im Kontext neuer Glaubensgemeinschaften tabuisiert, duldet unter Umständen erhebliche Grenzverletzungen gegenüber Kindern. Welche Glaubensvorstellungen und Erziehungskonzepte mögliche Beeinträchtigungen des Kindeswohls begünstigen, soll im Vortrag aufgezeigt werden.
„Sekten“ – (k)eine Gefahr für die Gesellschaft?
Vortragender: Axel Seegers (Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Erzdiözese München-Freising)
Mit „Sekten“, da sind sich alle einig, möchte man nichts zu tun haben! Die Mitglieder fallen meist auf durch ihr Verhalten, glauben an mehr oder weniger unsinnige Dinge und weil es den Führern meist um Geld, Macht und um sexuelle Kontrolle geht, muss die Gesellschaft vor dem Einfluss dieser Gemeinschaften geschützt werden. Vor allem aber, so die Grundüberzeugung, sind unsere Kinder und Jugendliche vor den Gefahren zu schützen. Diese Angst vor Sekten, die Staat und Gesellschaft unterwandern und die Jugend verführen, war Anfang der 70er Jahre Anlass für die Einrichtung von Sektenberatungsstellen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Seither gibt es vielfältige Untersuchungen und Erfahrungen in Umgang und in der Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Strömungen, Gurus und religiösen Organisationen. Das Jubiläum der Bundesstelle für Sektenfragen ist ein guter Anlass, eine kritische Reflexion aus fachlicher Sicht anzustrengen, (Vor)Urteile aus sozial-psychologischer und beraterischer Perspektive zu überprüfen und neue Erkenntnisse für aktuelle sowie zukünftige Herausforderungen zu gewinnen.
Ende der Maßnahmen – Ende des Protests? Das Telegram-Netzwerk des österreichischen COVID-19-Protestmilieus und die Verbreitung von Verschwörungstheorien seit dem Ende der Pandemie
Vortragende: Arash Bakhtiari, Felix Lippe und Philipp Pflegerl (Bundesstelle für Sektenfragen)
Die Ausbreitung des COVID-19-Virus sowie die staatlichen Maßnahmen zu dessen Eindämmung wurden durch das Aufkommen eines breiten Protestgeschehens in Österreich begleitet, das seinen Ausdruck in regelmäßigen Kundgebungen und Demonstrationen fand. Das entstandene Protestmilieu setzte sich aus einem heterogenen Publikum zusammen, das durch eine Vielzahl an unterschiedlichen weltanschaulichen Gruppierungen und Protestmotiven geprägt war. Auch wenn sich an den Protesten viele Menschen ohne Berührungspunkte in verschwörungsideologische Milieus beteiligten, bestimmten Verschwörungserzählungen von wesentlich in die Protestmobilisierung involvierten Personen und Gruppen maßgeblich den Charakter der Protestbewegung.
Schon bald stellten sich soziale Medien als zentrale Plattformen für die Verbreitung von Verschwörungserzählung heraus. Die Protestmobilisierung sowie die milieuübergreifende Vernetzung fand insbesondere über den Instant-Messaging-Dienst Telegram statt, der weiterhin für die Protestbewegung die zentrale Online-Plattform darstellt. Mit dem Rückgang der Infektionszahlen und der schrittweisen Aufhebung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 seitens der Regierung verlor die Protestbewegung allerdings zunehmend an Mobilisierungskraft. Der organisatorische Kern der Bewegung versucht jedoch bis heute durch die Besetzung neuer Themen breitenwirksam zu Kundgebungen und Demonstrationen zu mobilisieren und die Erzählung einer globalen Verschwörung lebendig zu halten.
Vor diesem Hintergrund widmet sich dieser Vortrag der Frage, wie sich das Telegram-Netzwerk des während der Pandemie entstandenen Protestmilieus entwickelt hat, wer die zentralen und reichweitenstarken Akteurinnen und Akteure innerhalb dieses sind, welche Themen aufgegriffen werden und welche Rolle Verschwörungstheorien in diesem Zusammenhang spielen. Auf Grundlage der Erkenntnisse des systematischen Online-Monitorings an der Bundesstelle für Sektenfragen wird ein erster Einblick in das bisher weitgehend unerforschte Online-Milieu des während der COVID-19-Pandemie in Österreich entstandenen Protestmilieus gegeben.
Die Vortragenden
Arash Bakhtiari. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bundesstelle für Sektenfragen ist Arash Bakhtiari für die technische Umsetzung und quantitative Auswertungen des Online-Monitoring-Projekts zuständig. Er hat auf der Universität Wien Physik und Soziologie studiert und arbeitete mehrere Jahre als Datenanalyst in der freien Wirtschaft und bei diversen Projekten.
Gloriett Kargl hat selbst Kulterfahrung. Nach ihrem Ausstieg absolvierte sie eine Ausbildung zur Kommunikations- und Medienfachfrau und studierte Erziehungswissenschaft an der Universität Wien. Kargl verfügt über langjährige Berufserfahrung in der Offenen Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. 2012 zog sie nach Berlin, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Violence Prevention Network, im Rahmen des Beratungsstellennetzwerks des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, bundesweite Qualitätsstandards in der Beratung (mutmaßlich) islamistischer radikalisierter Personen erarbeitete. Gloriett Kargl arbeitet seit 2016 als Beraterin für Aussteiger*innen aus destruktiven Gruppen im Einzel- und Gruppensetting für iuvenes e. V. in Berlin. Aktuell studiert Kargl Angewandte Psychologie mit dem Schwerpunkt „Psychologische Beratung“ an der Internationalen Hochschule in Deutschland.
Robert Lender, Leiter des Referats Kompetenzzentrum Jugend im Bundeskanzleramt. Fachaufsicht über die Bundesstelle für Sektenfragen. Seit über 30 Jahren im Ministerium mit dem Thema sogenannte „Sekten“ befasst, u.a. mit der Erstellung von Informationsmaterialien, Leitung von Arbeitsgruppen und der Erarbeitung des Errichtungsgesetzes für die Bundesstelle. In den Aufgabenbereich des Referats fallen auch angrenzende Themenbereiche wie u.a. Gesundheit, Extremismusprävention und No Hate Speech.
Bianca Liebrand, M. Sc. Psychologin. Studium in Wuppertal. Ausbildung als Systemische Beraterin (DGSF). Systemische Kinder- und Jugendlichentherapeutin (DGSF). Seit 2017 psychologische Beraterin und Referentin beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V.
Felix Lippe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bundesstelle für Sektenfragen, wo er für die Dokumentation in den Themenfeldern alternative religiöse Bewegungen, Esoterik, fundamentalistische Strömungen, radikale und extremistische Ideologien, Personenkulte und Staatsverweigerer verantwortlich ist. Er leitet das systematische Online-Monitoring im Bereich Verschwörungstheorien. Felix Lippe hat Rechtspsychologie an der Universität Maastricht und Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg studiert und arbeitete zuvor an unterschiedlichen außeruniversitären Forschungsinstituten im Bereich Radikalisierung und Extremismusprävention.
Philipp Pflegerl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bundesstelle für Sektenfragen und Teil des Online-Monitoring-Teams zu Verschwörungstheorien. Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien und war bis 2023 Teil der Yad Vashem Research Delegation Vienna. Seit 2022 ist Philipp Pflegerl neben seiner Tätigkeit an der Bundesstelle für Sektenfragen Lehrbeauftragter und Doktorand am Institut für Politikwissenschaften, Universität Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie, Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien. Im Rahmen seines Dissertationsprojekts untersucht er die Transnationalisierung der extremen Rechten in Europa.
Sabine Riede, Pädagogin. Studium der evangelischen Theologie, Germanistik und Pädagogik in Essen. Erstes und Zweites Staatsexamen für die Sekundarstufe I in Deutsch und ev. Religion. Ausbildung in Gesprächsführung und Krisenintervention bei der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG). Kinderschutzfachkraft nach § 8a SGB VIII. Synodalbeauftragte des Kirchenkreises Essen. Seit 1987 pädagogische Beraterin und Referentin beim Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. Seit 2003 Geschäftsführerin der Informations- und Beratungsstelle des Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V.
Ulrike Schiesser ist Psychologin und Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie) und Geschäftsführerin der Bundesstelle für Sektenfragen in Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Missbrauch von Spiritualität und Religion, problematische Gruppendynamiken und vereinnahmende Systeme, Konflikte im Bereich Weltanschauungen, Esoterik und Verschwörungstheorien. 2021 erschien im Springer-Verlag das mit Co-Autor Holm Hümmler verfasste Buch „Fakt und Vorurteil: Kommunikation mit Esoterikern, Fanatikern und Verschwörungsgläubigen.“
Rosa Schuber. Systemische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, klinische Hypnose nach Milton Erickson, Weiterbildung in Psychotraumatologie, seit 2023 an der Bundesstelle für Sektenfragen.
Axel Seegers studierte katholische Theologie (Diplom) sowie Philosophie (Magister Artium) in Münster und München. Zudem erwarb er sich Qualifikationen in Ehe-, Familien- und Lebensberatung sowie systemischer Beratung (DGSF). Seit 1997 tätig am Fachbereich Weltanschauungsfragen der Erzdiözese München und Freising (www.weltanschauungsfragen.de), hat er die Stelle zu einer psychosozialen Fachberatungsstelle weiterentwickelt, die zusätzlich mit einer Psychologin und einer Politikwissenschaftlerin besetzt ist.
Johannes Sinabell, katholischer Theologe, seit 1998 Referent für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Erzdiözese Wien und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der diözesanen Weltanschauungsreferent*innen Österreichs (ARGE Weltanschauungsfragen, www.weltanschauungsfragen.at).
Hartmut Zinser, Prof. Dr. für Religionswissenschaft i.R., Freie Universität Berlin. Er war Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Letzte Publikationen: Religion und Krieg (2015); Untergang von Religionen und Säkularisierung (2023)
Nora Zoglauer. Die Wienerin ist studierte Soziologin und hat 2023 den Prälat-Leopold-Ungar-Preis und 2017 den Claus Gatterer Preis erhalten. Seit vielen Jahren gestaltet sie vielbeachtete Reportagen für die Sendung Am Schauplatz. Die Themenvielfalt ihrer journalistisch außergewöhnlichen Reportagen ist groß. Sie hat etwa über die Staatsverweigerer-Szene berichtet, religiöse Fundamentalisten interviewt, intersexuelle Menschen und ihren Kampf um die Anerkennung eines dritten Geschlechts portraitiert. Und seit 2019 berichtet sie regelmäßig über die Zubetonierung Österreichs und wie die schönsten Grundstücke von Gemeinden gewinnbringend als Chaletdörfer für ausländische Millionärinnen und Millionäre vermarktet werden. Ihre journalistische Karriere hat sie 2006 als freie Mitarbeiterin in der Wissenschaftsredaktion vom Radiosender Ö1 begonnen. Seit 2015 ist sie Gleichstellungsbeauftragte für den Bereich Fernseh- und Radioprogramm.